top of page
margot wallner

Von einem, der auszog, mutig zu werden, zu wachsen und das Leben zu genießen

Die Fahrt in das kleine ungarische Tierheim, wo ein grauer Schäfer wartete, ein neues Leben zu beginnen, war geprägt von vielen Gedanken – ist das wirklich richtig? Ist es zu früh? Kann ich mich wirklich schon auf einen neuen Hund einlassen?


Und dann stand ich vor dem Zwinger. Ein junger Hund kreiselte drinnen vor sich hin. Mit Schwabelbauchi, weil die Tierheimleiterin in ihrem Bemühen, dass die Frau aus Österreich den Hund auch wirklich nimmt und sich nicht erschreckt, dass er viel zu dünn ist, den Jüngling noch extra aufgefüttert hat. Viel Futter und kaum Bewegung – Schwabelbauch und rausstehende Rippen. Und ganz nebenbei ein unglaubliches Stressgesicht.


Also bin ich in den Zwinger gegangen und schon waren wir auf dem Weg. Der Bub ist im gestreckten Galopp in Richtung großes rotes Auto gelaufen und mit einem Sprung in die Box gehüpft. Kein Blick zurück – als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Wir haben wohl beide nicht viel nachgedacht.


7 Stunden Autofahrt später, war er dann mitten in Wien – grau, groß und überfordert. Und doch auch mit einem unglaublichen Willen, dieses, sein, neues Leben zu meistern. Und so ist er einfach in den Aufzug marschiert und hat sich dann mal im Spiegel bewundert.


Ein neues Leben, ein neuer Name – Aragorn, Waldläufer, König – einer, der seinen Weg noch finden muss – ein großer Name für ein kleines Häufchen Elend.


Welch Umstellung für uns beide.


Für mich – vom souveränen, sozial sicheren, großstadttauglichen Althund zu einem Jungspund, der vieles so richtig gruselig fand.


Für Aragorn – vom Land in die Großstadt mit unendlichen Triggern und so unglaublich vielen Dingen zu lernen – viele Stufen, Pippi gehen in der Stadt, U-Bahn fahren, und noch so viel mehr.


Und so haben wir uns auf den gemeinsamen Weg gemacht.


Am dritten Tag hat er das Sofa erobert – ganz vorsichtig hat er eine Pfote raufgelegt und mal geschaut, was denn da jetzt passiert. Die Einladung hat er mit seinem ersten entspannten Gesichtausdruck angenommen – und er hat das Sofa nie wieder verlassen. Es war sein bevorzugter Liegeplatz.



Die ersten 6 Monate hat er nur schlafen können, wenn er an meinem Daumen nuckeln konnte. Und den Kontakt beim Schlafen hat er Zeit seines Lebens immer gehalten.


War Aragorn zu Beginn vor allem überfordert und hat versucht, möglichst nicht anwesend zu sein – was für Außenstehende unglaublich „brav“ gewirkt hat -, hat sich das nach den ersten 3 Monaten frappierend verändert.


Es hat sich herauskristallisiert, dass er sich nicht nur unglaublich vor Menschen fürchtet, sondern auch mit 42 gezückten Argumenten nach vorne in Richtung Hals geht, wenn er sich bedrängt fühlt und keinen Ausweg mehr sieht. In diesen Situationen hat er sich komplett aus dem Großhirn verabschiedet und war nur mehr in der Amygdala zu finden.


Nicht besonders prickelnd mit 76cm Schulterhöhe und zu Beginn 35kg.


Es wurde auch offensichtlich, dass die Menschen in seinem ersten Leben gerne einen „scharfen“ Schutzhund aus ihm gemacht hätten und ihn halt dorthin geprügelt haben, weil er offenbar nicht dafür „geeignet“ war. Aber probiert haben sie es halt – weil was soll man denn sonst mit einem Arbeitslinienschäfer machen –, bevor sie ihn dann rausgehaut haben.


Es gab diese typischen Armbewegungen aus dem Schutzdienst, die ihn getriggert haben, alles auszupacken, was sein Gebiss hergegeben hat.


So bin ich einmal, ein Tablett vor mir tragend, auf ihn zugegangen und hatte dann 35kg Schäfer ein Meter vor meinem Gesicht. Geordneter Rückzug war angesagt, um die Situation aufzulösen. Ohne Tablett mit den Armen an meiner Seite runterhängend war das auf ihn zugehen dann überhaupt kein Thema.


Es war der erste Schritt in die richtige Richtung. Das erste Mal, dass er gemerkt hat, dass er gehört und verstanden wird und dass seine Wünsche – in diesem Fall Abstand – verstanden und berücksichtigt werden.


Er hat sich vor Töpfen und Pfannen – die in Ungarn ganz gerne Mal in Richtung und/oder auf den Hund geworfen werden, wenn dieser z.B. zu gierig ist beim Füttern oder im Weg steht – , hängenden Tüchern – da gibt es eine unsägliche Übung im Training, wo Menschen zwischen Tüchern hervorspringen und Hund muss diese dann angreifen –, Menschen – ganz besonders vor sitzenden – und fahrenden Autos gefürchtet. Und er hatte als Lösung, wenn möglich, kopflose, panische Flucht oder reinbeißen, wenn Flucht nicht möglich war.


Wir sind gemeinsam seine Ängste und Traumata angegangen – in seinem Tempo.


Es gab also nächtliche Spaziergänge um drei in der Früh. Das erste Markieren, das gefeiert wurde wie die Mondlandung. Anfeuern und unglaubliches loben, wenn er sich getraut hat, sich 3 Schritte von mir zu entfernen. Unbändige Freude über seine ersten Zoomies. Raufspringen als Hilfe in dieser großen, weiten Welt.


Er durfte lernen, dass er eine Meinung haben darf, dass er Wünsche äußern und Bedürfnisse erfüllt bekommt. Dass ich ihn beschütze und sein sicherer Hafen bin.


Schnell war zudem klar, dass er viel, viel lieber ausweicht, wenn was gruselig ist, als sich draufzustürzen. Und es war wohl ein richtiger AHA-Moment für ihn, dass er das auch darf. Und er es ganz selbständig einsetzen kann. Und auf einmal war Flucht und nach vorne gehen gar nicht mehr notwendig für den kleinen Schäferhund.


Und bevor jetzt jemand fragt – nein, wir haben gar nicht direkt an seinen Triggern gearbeitet. Niemand braucht einen eskalierenden Schäfer, der in Situationen gebracht wird, die er nicht meistern kann und dadurch dauernd Misserfolge hat.


Unser gemeinsamer Weg war vielmehr mutig machen, Stärken finden, Selbstwirksamkeit erfahren und viele Abenteuer erleben, die Spaß machen – und ganz viel Schnüffeln. Einfach seine Werkzeugkiste mit ganz vielen guten Verhaltensoptionen füllen, die er ganz alleine einsetzen kann, aber auch das Wissen, dass er immer um Hilfe fragen kann, wenn er sie braucht.


Neben unserem gemeinsamen wohl eher

unspektakulären Alltag hat Aragorn dann Dummytraining für sich entdeckt. Es hat ihm die Tür zu einer ganz neuen Welt geöffnet und mir auch – hätte ich keinen Dummyschäfer bekommen, hätte ich niemals eine Ausbildung zur Dummytrainerin gemacht.


Dummytraining war für Aragorn selbständig arbeiten, suchen, finden, bringen, seinen Körper einsetzen und bei all dem mutig sein – in dieser großen Welt, die ihm so viel Angst eingeflösst hat.


An des Buben Seite war von der ersten Sekunde an das Mirli – Queen-Bee, Fels für den verängstigten Jungspund, Anker und Sicherheit – ewig werd ich ihr dankbar sein, dass sie ihn mit offenem Herz angenommen und geholfen hat, die Welt zu erobern. Sie wurde seine große Liebe. Sie waren wie Topf und Deckel. Wander- und Reisepartner.



Und wie sie ihn gestützt hat, konnte unsere „orange Gefahr“ an seiner Seite auch mal das kleine Mirli sein, dass sich auch mal gruseln durfte und nicht immer groß und erwachsen sein musste.



Aragorn war immer ein zurückhaltender Hund, der bis zu einem gewissen Anteil in seiner Vergangenheit gefangen war. Er konnte Menschen gegenüber nie offen und entspannt sein – zu sehr war das, was Menschen ihm offensichtlich angetan hatten, in seinem Hirn verankert. Aber er hat gelernt, dass er Fertigkeiten hat, um sein Leben gut zu leben und Spaß zu haben.


Aragorn war der lebende Beweis, wie schlimm aversives Training ist und welche Narben und Traumata es auf einem Lebewesen hinterlässt.


Er hat mich gelehrt, dass wachsen, mutig sein und das Leben meistern nur durch Vertrauen, Sicherheit und Wohlfühlen geschenkt werden kann.


Wenn er jemand in sein Herz geschlossen hatte, war er bedingungslos in seiner Freundschaft.

Ich habe niemals vor ihm einen sanfteren, großzügigeren und mit jeder Faser mutig sein wollenden Hund erlebt.


Zu kurz war unsere gemeinsame Zeit. Aragorn durfte nur 6 ½ Jahre werden – eine angeborene Nierenerkrankung hat unseren gemeinsamen Weg viel zu früh beendet.


Für jedes Jahr unserer Zeit ziert eine Wildrose meinen Arm – wild und ein bissl stachelig wie mein Waldläufer war, aber auch zart, fragil und wunderschön.


Und der erste Teil des Walking Song von J.R.R. Tolkiens Lord of the Rings begleitet mich unter den Rosen mit dem Wissen, dass er nur vorausgegangen ist, in ein neues Abenteuer.


Still round the corner there may wait, a new road or a secret gate …



 

Aber echt Bub, was genau hast du dir dabei gedacht, wie du mir Thoron geschickt hast? 😉


 

 

 

46 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page