Amarie. Ein großer Name aus dem Tolkien-Universum, vergeben an etwas, das alles
andere als das war.
Es war sehr klein, etwas übelriechend, noch übler gelaunt und plötzlich in meiner
Hand. Mit einem Lindthasen-Glöckchen um den Hals, vermutlich um die
erstgenannten Eigenschaften etwas auszugleichen. Diese Szene, die genauso kurios
war, wie sie sich hier liest, spielte sich 2011 in einem ungarischen Tierheim ab, in
dem ich damals den Großteil meiner freien Zeit verbrachte.
Ich hatte kurz zuvor eine kleine Hündin an einen Narkoseunfall verloren, und weil in
diesem Tierheim viele wirklich liebe, empathische Menschen zugange waren,
beschloss man, mich mit „Ersatz“ zu beglücken. Dass ich einen ganzen Hof voller
Tierschutzhunde hatte, war in dem Moment dem kollektiven Bewusstsein dort wohl
gerade entfallen.
Der „Ersatz“ war nicht ansatzweise beglückt.
Der „Ersatz“ entstammte, wie ich herausfand, einer Produktionsstätte für
Diensthunde. Der „Ersatz“ war untauglicher Ausschuss, und hatte daher überaus
frühzeitig von seiner Mutter Abschied nehmen müssen, um mit den Geschwisterchen
den Weg der Entsorgung über die Tötungsstation zu gehen.
Ich lasse hier Details aus. Nehmt nur mit, dass dieses winzige Geschöpf in meiner Hand zuvor alles, wirklich alles getan hatte, um zu überleben.
In den nächsten Wochen erschütterte die kleine Amarie mein damals noch reichlich
klischeegeprägtes Welpenbild in den Grundfesten.
Sie drohte. Sie biss. Sie kam nicht. Sie konnte nicht teilen. Sie wollte Nähe, und
ertrug sie nicht. Nur die gefestigsten, sozialkompetentesten, souveränsten unserer
Hunde konnten mit ihr. Oder sie mit ihnen.
Hätte ich damals nur schon gewusst, was ich heute weiß.
Mein Wissen reichte immerhin für die Erkenntnis, dass ich hier ein fulminantes
Problem hatte. Klein-Amarie zeigte sich (no na ned) in unserem zweiten Lebensumfeld am Stadtrand Wiens genauso.
Welcher Rat ereilt einen, wenn man einen jungen, eskalierenden Schäferhund mit
sich durch die Gegend führt?
Genau. „Ihr müsst unbedingt in eine Hundeschule!“
Dort landeten wir auch. In einer mit Welpengruppe, Keksen und ohne Gewalt.
Mit Sitz und Platz und Leine gehen. Und dummerwiese halt auch mit Menschen und
anderen Hunden.
Das Mirli tat nicht, wie die jungen Hunde dort taten. Das Mirli sah aus wie ein
Kugelfisch vor Entsetzen, und als Rückzug nicht reichte, setzte der Kugelfisch
prophylaktisch Zähne und unlautere Mittel ein. Das wäre halt ihr Ausdrucksverhalten.
In leinenlosen Phasen standen das Mirli und ich außerhalb des Zauns, weil keiner mit
dem orangen Irrsinnsteil dort drinnen sein wollte.
Eine brüllte und biss um sich, die andere genierte sich.
Nicht für die Übungen – nein, das Mirli war gut in diesen ganzen Sitz-Platz-Fuß-
Dingen.
Zur Verzweiflung brachte mich, dass das Mirli während dessen potenzielle
Fressfeinde anvisierte, und sie außerhalb des Hundeschulsettings sowieso generell als wandelnde Eskalation unterwegs war.
Also übten wir mehr. Mehr sitzen, länger sitzen, immer und überall Platz machen, im Fuß an anderen vorbei. Das Mirli gehorchte. Und eskalierte.
Beides in steigendem Ausmaß. Uns wurde angedeutet, dass dieser Hund einmal etwas ganz Furchtbares anstellen würde, und ich mir überlegen sollte, ob ich sowas halten könnte.
Wie so oft im Leben muss es ganz finster sein, damit man ein Lichtlein findet. Besser
gesagt fand das Lichtlein uns – in Form eines unfassbar wunderbaren Altdeutschen
Schäferhundes und seiner Menschin. Beide bedingungslos gewillt, Freunde dieses
orangen Irrsinnsteils und seiner Leinenhalterin zu sein.
In Wahrheit wurden damals Grinsehunde geboren – der Hund war Benjamin,
unvergessen, und die Person dazu war Margot Wallner.
Und so begann sie, unsere unerwartete Reise, mit dem Schritt heraus aus der
engen, kleinen Welt des Hundeplatztrainings. Die darauffolgenden Jahre sind geprägt von einer Unmenge an Wissenserwerb und Fortbildung, dem Bitten um Verzeihung bei meinem Hund für meine Ahnungslosigkeit, und dem Verstehen, was Hundetraining eigentlich bedeutet.
Der Beginn erforderte zugegebenermaßen enorm viel Mut – entgegen der bisher
tiefsitzenden Überzeugung, dem Hund ja offenbar nicht Herr zu werden,
aufzumachen für Wachstum, für Entscheidungsfreiheit, für Empowerment des
Hundes ist ein gewaltiger Schritt.
Es ist aber ein Schritt, der völlig unumgänglich wird, wenn man sukzessive Klarheit bekommt zu Dingen wie Trauma,
den Zusammenhängen von Emotionen und
Verhalten, der Neurobiologie, Bindung und Beziehung, dem Lernen als
lebenslangem Prozess.
Und das Mirli? Hat es jemals etwas Furchtbares angestellt?
Nein, hat es nicht.
Aus dem dienstuntauglichen, traumatisierten Panzerkreuzer wuchs ein Hund von beispielloser Empathie und sozialer Intelligenz heran. Ein Hund mit unbeschreiblich viel Meinung, die eigentlich immer richtig war. Ein Hund, der sein bestes Selbst werden durfte.
Ab und an hab ich mich noch immer geniert in diesen späteren Jahren.
Nein, nicht für das Mirli. VOR ihr – dafür, dass ich früher nicht sehen konnte, was sie
brauchte und wer sie eigentlich war. Dafür, dass ich dachte, Gehorsam würde ihr
gerecht werden, dass ich diesem so simplen Klischee aufgesessen war, wo sie
eigentlich nur die Chance zu Wachstum und Heilung gebraucht hätte.
Das Mirli eroberte Herzen, gewann Freunde, bestand unglaubliche Wanderabenteuer
und Reisen mit uns, fand verlorene Haustiere, brachte todkranken Menschen Momente des Glücks und war für Kleinkinder der Erstkontakt-Hund.
Sie wurde mein Fels, meine Referenz – und für immer der Beweis und die Erinnerung daran, dass Problemverhalten niemals über Gehorsam, sondern einzig und allein dadurch gelöst werden kann, dass unsere Hunde mit ihren Bedürfnissen gesehen werden, heilen und so ihr bestes Selbst sein können.
Das Mirli überquerte am 11. Februar 2023 die Regenbogenbrücke – mein Tattoo für sie trägt die Worte „Immer da“ und „You bow to no-one“.
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