Teil 1
Ein kleiner, alter, deprivierter, traumatisierter Hund aus Bulgarien und sein Weg ins Leben...
Schritt für Schritt möchte ich euch fast live auf diesen Weg mitnehmen, mit einem ungeschönten Reisebericht – der Weg ist das Ziel.
Reisevorbereitungen – hab ich alles, was ich brauche?
Die schnelle Antwort wäre „Zeit, Geduld und Liebe – hab ich, das genügt!“ - damit ist allerdings in Wahrheit gerade mal das Handgepäck bestritten. Und das hat schon so manchen Adoptions-Trip rasch und bitter enden lassen.
Je weniger ein Hund mitbringt, desto umfangreicher muss unsere Ausrüstung und desto penibler müssen unsere Reisevorbereitungen sein. Erfahrung haben mir viele Jahre im Tierschutz geschenkt, ruhige ländliche Wohnsituation ist gegeben - jetzt hätten wir doch alles, oder?
Ein großer Koffer, der mit muss, ist der mit dem Label „Wissen (und Personen und Quellen, die ich frage, wenn ich mal nicht weiß)“.
Empathie und Gefühl sind viel wert – aber Wissen um Angst, Stress, Trauma, Verhalten und Training gibt Sicherheit unterwegs. Und die brauchen wir hier für zwei.
Hätten mich nicht wunderbare Hunde und Menschen (danke Margot...) vor Jahren dazu gebracht, in die riesige, wunderbare, aufregende, inspirierende Welt des Hunde-Wissens von heute einzutauchen, hätte es diese Adoption nie gegeben.
Ganz banal sind die Vorbereitungen der Umgebung – Wickelunterlagen für die Geschäftchen, völlig ungestörter Rückzugsort, Kindergitter, Box zur kontaktlosen Übergabe vom Transport, Sicherheitsgeschirr für später, Rollrasentoilette und isolierte Hundebox auf der Terrasse, sollte Gildin ein langfristig nicht zu überzeugender Outdoor-Camper sein.
Ballast – was nicht mit darf...
Erwartungen. Kopfkino vom fröhlich mit mir über die Wiese hopsendem Hund und Spaziergängen im Sonnenschein. Hundewiesenweisheiten von vorgestern.
Erwartungen im Sinne von Wünschen bergen immer die Gefahr von Enttäuschungen und - viel schlimmer – die, auf Anderes nicht wirklich vorbereitet zu sein. „Und was, wenn...“ verdient immer eine Antwort.
Meine einzige Erwartung ist, dass dieser kleine Hund lebendig hier ankommt.
Meine Hoffnung, dass er eines Tages glücklich ist.
Der Reise-Kompagnon – Gildin („Silberfunke“), aka Sir Wurst
Gildin sehnt sich nicht nach einem liebevollen Zuhause und Menschen, in deren Arme er dankbar sinken darf. Wären die Lebensumstände vor Ort gut und er dort zumindest tendenziell glücklich, wäre mein Rat definitiv: lasst ihn, wo er ist!
Gildin ist wohl irgendwann 2009 geboren worden und landete in einem Hundelager im bulgarischen Ruse. Wie, weiß man nicht mehr.
Was man weiß, ist ,dass er sich dort von Tag 1 weg so gründlich verkroch, dass die Tierschützer, die dort versuchen zu helfen, volle drei Jahre nicht wussten, dass er überhaupt existierte.
Man fand ihn schließlich in die Ecke einer holzkistenartigen Hundebox gedrückt – wo er weiterhin gute acht Jahre verblieb, weil er nicht anfassbar war, panisch biss und Hunde genauso schrecklich fand wie Menschen und die Welt an sich. Wie er das überlebt hat, werden wir nie erfahren, auch nicht, was ihn seelisch so zerstört hat, dass das die einzig mögliche Daseinsform für ihn war und ist.
Reisekonzept...wie gehen wir‘s an?
Ich möchte diesem kleinen Kerl etwas zurückgeben, das ihm genommen und ein ganzes, langes Leben lang verwehrt wurde. Jetzt wird‘s nicht pathetisch, keine Sorge.
Kontrolle. Kontrolle über sein Dasein.
Kaum etwas macht mehr Angst, als ausgeliefert und handlungsunfähig zu sein. Sich nicht helfen zu können. Hilflos zu sein. So lange, bis man es aufgibt – bis zur erlernten Hilflosigkeit.
Der Weg hinaus führt über das Erleben, dass man auf seine Situation Einfluss nehmen kann, dass man gehört wird, dass man sich entscheiden kann und selbstwirksam ist.
Dass man Situationen bewältigen und Dinge schaffen und stolz auf sich sein kann.
Klingt nach großen Dingen für einen kleinen Hund – dabei ist es nur das Fundament, auf dem wir bauen, und über das er im Laufe seiner Reise hoffentlich hinauswachsen wird.
Warum ich „Den kriegst du schon hin!“ nicht mag...
Weil es bedeutet, dass ich diesen Hund von hier irgendwo anders hinbekomme, wo ihn ich oder die Allgemeinheit gerne hätten – ich will ihn aber nirgends hinkriegen.
Ich möchte, dass er stark genug werden kann, um selbst zu gehen.
Mutig genug, Ziele zu haben und seine Bedürfnisse kund zu tun. Seine. Nicht meine. Keine, die Mensch so gewöhnlich für Hunde parat hat.
Hören wir auf, Hunde „hinzukriegen“ – geben wir ihnen die Möglichkeit, zu wachsen.
Begleiten und unterstützen wir sie auf ihrem Weg.
Deshalb heißt es jetzt – „Komm, kleiner Gildin. Lass uns leben gehen!“
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